Montag 20.10. 8-14 Uhr Wache
56°45’42.93″N  1°17’8.90″W

Der Sturm hat uns wieder erfasst. Nichts an Bord ist mehr trocken. Es ist kalt und die Müdigkeit packt mich mit eisernen Klauen, sobald ich auch nur ein wenig zur Ruhe komme.

Ich kann nicht mehr. Seit mehreren Tagen habe ich nicht richtig gegessen. Ich lebe von ein paar Crackern und ab und an mal einer Scheibe Brot, die ich sehr langsam und mit Bedacht esse, damit sie auch drin bleibt. Kleine Bissen, gut kauen, langsam und lieber weniger. Viel trinken. Die Strategie geht ganz gut auf. Die Seekrankheit habe ich soweit im Griff, aber die Erschöpfung bestimmt all mein Tun. In den letzten Nachtwachen ist es mir immer schwerer gefallen, einen sicheren Stand zu finden. So bin ich in meiner Wache kaum eine Hilfe.

Ich ringe mich dazu durch, meinen Wachführer um eine Auszeit zu bitten. Diese Nacht werde ich die Hundewache aussetzen, auch wenn das bedeutet, dass die anderen für mich mitarbeiten müssen.

Dienstag 21.10. 0-4 Uhr Wache
54°40’34.65″N   0°31’50.06″E

Ich liege unruhig in meiner Koje. Draußen muss die Hölle losgebrochen sein. An Schlaf ist kaum zu denken. Immer wieder kostet es mich Anspannung und Kraft nicht in meiner Koje von links nach rechts geschleudert zu werden. Dennoch, die zusätzliche Erholung ist dringend nötig.

Im Halbschlaf bekomme ich noch mit, wie zwei aus der anderen Wache geweckt werden. An Deck werden erfahrene Crewmitglieder gebraucht, die auch bei diesem Wetter noch in die Wanten steigen um Segel zu reffen.

Dienstag 21.10. 14-20 Uhr Wache
 52°39’51.31″N  2°46’47.12″E

Als ich aus meiner Koje krieche, ist es noch eine ganze Weile bis zum Wachwechsel. Zwölf Stunden sind vergangen. Zwölf Stunden in denen ich versucht habe, mich so gut es geht zu erholen.

Draußen tobt immer noch der Sturm, aber im Gegensatz zu den vergangenen Tagen scheint die Sonne. Fasziniert betrachte ich die sich immer wieder auftürmenden, türkisblau-grauen Wellenberge. Wir fahren mittlerweile vor dem Wind, was auch bedeutet, dass das Schiff ruhiger liegt, trotzdem gehen immer wieder gewaltige Mengen Wasser über Deck, schlagen gegen die Luken und immer wieder findet ein Teil der Wassermassen auch seinen Weg ins Vorschiff und in die Kojen. Alles ist nass!

Am Steuerrad leisten in der Zwischenzeit zwei Leute gleichzeitig Schwerstarbeit und irgendwie ist es ein Wunder, dass ausgerechnet an diesem Nachmittag die Stimmung in meiner Wache schlagartig ansteigt. Vielleicht ist es das gute Wetter, der Sonnenschein. Vielleicht ist es aber auch eine Portion Galgenhumor. Am vierten Tag mit Sturm auf der Nordsee weicht das Elend und die Anstrengung langsam einer seltsamen Faszination für die Naturgewalt, die uns umgibt.

Mittwoch 22.10. 8-14 Uhr Wache
51°25’35.68″N 1°55’14.87″E

2-o’Clocky mit dem Kapitän. Wir sind durch. Der Wind nimmt wieder ab und in Kürze erreichen wir den Ärmelkanal. Aufatmen in der gesamten Crew. Selbst für die erfahrensten Segler an Bord waren die letzten Tage und Nächte eine Herausforderung.

Wenn nichts mehr schief geht, sind wir Freitagmorgen in Brixham. Noch zwei Tage bis zum nächsten Hafen. Noch zwei Tage bis zu einer warmen Dusche und der Aussicht auf trockene Klamotten.

Donnerstag 23.10. 4-8 Uhr Wache
 50°53’40.53″N  1°28’2.51″E

Mit nur zwei Wenden passieren wir die Straße von Dover. Am Horizont sehen wir die französische Küste und die Temperaturen an Bord sind deutlich gestiegen. Zügig geht es unter Vollzeug voran.

Es ist die hoffentlich letzte Hundewache, bevor wir England erreichen. Langsam komme ich wieder zu Kräften und zwischen den Manövern sitze ich an Deck, betrachte den Sternenhimmel über mir und genieße einen der Schokoriegel, die ich in Stavanger gekauft habe, damit sie mich durch die Nächte bringen. Bis hierhin blieben sie unangetastet.

Freitag 24.10. 8-14 Uhr Wache
50°14’50.59″N 2°34’5.33″W

Vor uns liegt die Küste von Devon. Das Frühstück in Brixham bleibt uns verwehrt, aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Wir kreuzen in der Bucht von Exeter und mit jeder Meile, die wir uns unserem Ziel nähern, steigt die Vorfreude auf den Hafen.

Nach dem Wachwechsel um 14 Uhr bleiben alle an Deck. Die letzten Vorbereitungen für das anstehende Rendez-vous mit dem Schlepper treffen wir mit der gesamten Mannschaft.

Die letzten Tage haben viel an Bord verändert. Die Mannschaft ist näher zusammengerückt. Der gemeinsame Stolz auf das durchlebte Abendteuer Nordsee schweißt uns zusammen, denn jeder von uns hat seinen Teil dazu beigetragen.

Die Schmerzen, die Anstrengung, die Übelkeit … sie scheinen fast schon vergessen.

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